
Fatima starrte auf ihr Handy, als wäre es eine Bombe. Seit zehn Minuten hatte sie die Nummer von Sarah vor sich, einer Mutter aus der Krabbelgruppe. Sarah hatte letzte Woche erwähnt, dass ihr acht Monate alter Sohn nachts alle zwei Stunden aufwachte. „Ich bin am Ende“, hatte sie gesagt. „Ich weiß nicht mehr, was ich falsch mache.“
Das wäre das perfekte erste Gespräch, hatte Fatima sich gesagt. Einfach mal nachfragen, wie es läuft. Vielleicht kann ich helfen.
Aber jetzt, mit dem Handy in der Hand, überkamen sie die Zweifel wie eine kalte Welle.
Was, wenn sie fragt, woher ich das alles weiß? Was, wenn sie nach meiner Ausbildung fragt? Was, wenn sie merkt, dass ich eigentlich keine Ahnung habe?
Layla krabbelte zu ihren Füßen herum und zog an ihrem Hosenbein. „Mama Mama“, brabbelte sie fröhlich. Fatima hob sie hoch und setzte sich auf die Couch.
„Was denkst du denn, Schatz?“, flüsterte sie. „Ist Mama verrückt, dass sie denkt, sie könnte anderen helfen?“
Layla lachte und griff nach Fatimas Haaren. Für sie war die Welt so einfach. Entweder funktionierte etwas oder es funktionierte nicht. Kein Zwischending aus Selbstzweifeln und Was-wäre-wenn-Gedanken.
Fatima dachte an gestern Abend zurück. Sie hatte Ahmad vorsichtig von ihrem Plan erzählt, echte Gespräche zu führen statt endlos zu recherchieren.
„Das ist gut“, hatte er gesagt und dabei nicht von seinem Handy aufgeblickt. „Aber du solltest dir vorher überlegen, was du sagst. Du willst ja nicht unprofessionell wirken.“
Unprofessionell. Das Wort hallte immer noch in ihrem Kopf nach.
Sie öffnete WhatsApp und tippte: „Hi Sarah, wie läuft es denn mit dem Schlaf bei euch?“ Dann löschte sie es wieder. Zu direkt. Zu offensichtlich.
Neuer Versuch: „Hi Sarah, ich dachte gerade an unser Gespräch letzte Woche…“ Löschen. Zu formell.
„Hey Sarah, magst du mal reden?“ Löschen. Zu vage.
Fatima seufzte und legte das Handy weg. Layla krabbelte wieder zu ihrem Spielzeug und begann, fröhlich an einem bunten Ring zu kauen. So sorglos. So unbeschwert.
Wann bin ich nur so kompliziert geworden?, fragte sich Fatima.
Sie erinnerte sich an ihre Studienzeit. Damals hatte sie regelmäßig Kommilitoninnen geholfen, ihre Hausarbeiten zu strukturieren. Nicht, weil sie die Beste war, sondern weil sie gut zuhören konnte. Weil sie nachfragen konnte. Weil sie praktische Lösungen fand, wenn andere sich in Theorien verloren.
Niemand hatte sie damals nach Zertifikaten gefragt. Niemand hatte ihre Qualifikationen hinterfragt. Sie war einfach da gewesen. Mit offenen Ohren und hilfreichen Ideen.
Was ist anders jetzt?
Das Handy summte. Eine Nachricht von ihrer Mutter: „Habibi, wie geht es dir? Du wirkst in letzter Zeit so nachdenklich.“
Fatima lächelte. Ihre Mutter hatte schon immer gespürt, wenn etwas nicht stimmte. Sie rief zurück.
„Mama“, sagte sie nach den üblichen Höflichkeiten, „darf ich dich etwas fragen?“
„Natürlich, mein Schatz.“
„Hattest du auch Angst, als du nach Deutschland gekommen bist? Dass du nicht gut genug Deutsch sprichst oder nicht weißt, wie die Dinge hier laufen?“
Ihre Mutter lachte. „Angst? Ich war terrified, wie ihr jungen Leute sagt. Ich konnte kaum ‚Guten Tag‘ sagen, geschweige denn einen Arzttermin vereinbaren.“
„Und wie hast du es trotzdem geschafft?“
„Ich habe angefangen. Schlecht, mit Fehlern, mit Händen und Füßen. Aber ich habe angefangen. Und weißt du was? Die Menschen waren freundlicher, als ich dachte. Sie haben mir geholfen, statt mich zu verurteilen.“
Fatima spürte, wie sich etwas in ihrer Brust lockerte.
„Außerdem“, fuhr ihre Mutter fort, „hatte ich etwas, was viele Deutsche nicht hatten. Ich wusste, wie es ist, fremd zu sein. Wie es ist, Hilfe zu brauchen. Das machte mich zu einer besseren Nachbarin, einer besseren Freundin.“
Nach dem Gespräch blieb Fatima lange sitzen. Layla war eingeschlafen, warm und vertrauensvoll in ihren Armen. Draußen spielten Kinder auf dem Spielplatz, ihre Stimmen ein fröhliches Durcheinander.
Vielleicht, dachte sie, ist meine Unsicherheit gar nicht mein größter Schwachpunkt. Vielleicht ist sie mein Vorteil.
Sie dachte an Sarah. An ihr müdes Gesicht in der Krabbelgruppe. An die Verzweiflung in ihrer Stimme. Sarah brauchte keine Expertin. Sie brauchte jemanden, der verstand, wie es sich anfühlte, nachts wach zu liegen und sich hilflos zu fühlen.
Jemanden wie Fatima.
Sie nahm ihr Handy und tippte, ohne zu zögern: „Hi Sarah! Ich dachte gerade an dich. Wie läuft es denn mit dem Schlaf? Falls du magst, können wir uns mal auf einen Kaffee treffen und reden. Manchmal hilft es, sich auszutauschen. ☕“
Bevor der Zweifel zurückkommen konnte, drückte sie „Senden“.
Ihr Herz klopfte. Aber es war ein anderes Klopfen als in den letzten Wochen. Nicht die Angst vor dem Scheitern. Sondern die Aufregung des Anfangs.
Das Handy summte fast sofort. „Oh ja, das wäre toll! Ich kann wirklich jeden Rat gebrauchen. Wann passt es dir?“
Fatima lächelte und tippte zurück: „Wie wäre es morgen Nachmittag?“
So einfach, dachte sie. Warum habe ich das nicht früher gemacht?
Aber sie kannte die Antwort. Weil sie geglaubt hatte, sie müsste erst perfekt sein, bevor sie helfen könnte. Weil sie gedacht hatte, sie bräuchte alle Antworten, bevor sie die ersten Fragen stellen durfte.
Dabei war das Gegenteil wahr. Ihre Unsicherheit machte sie menschlich. Ihre Lücken machten sie zugänglich. Ihre eigenen Kämpfe machten sie zu jemandem, dem andere vertrauen konnten.
Layla wachte auf und lächelte sie verschlafen an. „Mama hat heute etwas Wichtiges gelernt“, flüsterte Fatima ihr zu. „Man muss nicht perfekt sein, um zu helfen. Man muss nur bereit sein, anzufangen.“
Was Fatimas Durchbruch uns lehrt:
Die größte Hürde für viele angehende Gründerinnen ist nicht der Mangel an Wissen – es ist die Angst davor, nicht genug zu wissen. Wir glauben, wir müssten Expertinnen sein, bevor wir helfen dürfen. Aber das ist ein Trugschluss.
Menschen suchen nicht nach Perfektion. Sie suchen nach Verständnis. Nach jemandem, der ihre Probleme nicht nur theoretisch kennt, sondern emotional nachvollziehen kann.
Deine „Schwächen“ können deine größten Stärken sein:
Deine Unsicherheit macht dich zugänglich
Deine eigenen Kämpfe schaffen Vertrauen
Deine Lernbereitschaft macht dich authentisch
Der Schlüssel liegt nicht darin, alle Antworten zu haben, sondern bereit zu sein, die richtigen Fragen zu stellen. Und das kannst du nur, wenn du den Mut fasst, echte Gespräche zu führen.
Statt zu warten, bis du „bereit“ bist (das wirst du nie sein), probiere das:
Starte mit einem einzigen, ehrlichen Gespräch
Höre mehr zu, als du redest
Teile deine Erfahrungen, ohne sie als Lösungen zu verkaufen
Erlaube dir, zu lernen, während du hilfst
Expertise entsteht nicht im stillen Kämmerlein. Sie entsteht in der Begegnung mit echten Menschen und echten Problemen.
Dein erster Schritt ist nicht dein perfekter Schritt. Aber er ist der wichtigste.
Wird das Gespräch mit Sarah Fatimas Vertrauen stärken oder neue Zweifel aufwerfen? Und wie wird sie ihre Werte mit ihren Ambitionen in Einklang bringen? Das erfahrt ihr in Kapitel 4: „Halal gründen – Ein Balanceakt“…
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